Vor einem lila Hintergrund steht ein gemalter Koffer. Darunter steht ein Zitat: "Von einem knarrenden Geräusch werde ich jäh aus meinen Gedanken gerissen."

Der folgende Text wurde von drei Autor*innen gemeinsam verfasst. Die erste Person skizzierte den Beginn einer krisenhaften Situation. Die zweite Person spitzte die Krise zu und die dritte beendete sie so, wie es ihr stimmig erschien.

Klack, klack, klack

Klack, klack, klack, klack, legen sich die Ziffern und Buchstaben auf der Anzeigetafel um. Wo gerade noch „6:34 Uhr – ICE 657 – Zürich“ stand, gähnt mich jetzt eine schwarze Leere an. Wie? Was? Wird das Gleis geändert? Kann mal jemand eine Durchsage machen?

Neben mir warten noch vier weitere Leute an diesem fies nieselnden grauen November-Sonntagmorgen auf Bahnsteig 4 hier irgendwo im Nirgendwo. Auch wenn wir alle mit großem Abstand verteilt stehen, schauen wir einander erwartungsvoll an. So, als wüsste jemand die Antwort, was denn jetzt mit unserem Zug sei und würde uns anderen das schon verraten, wenn wir ihn nur lange genug anstarren. Es kennt aber offenbar niemand das Geheimnis von ICE 657.

Vermeintliche Erlösung von oben: „Sehr geehrte Damen und Herren, leider muss ich Ihnen mitteilen, dass der ICE 657 Richtung Zürich heute ausfällt. Wegen eines Personenschadens wird er umgeleitet. Ihre nächste Reisemöglichkeit ist der ICE 843 um 14:27 Uhr“, knarzt es aus dem Lautsprecher. Waaas??? 14:27 Uhr? Das sind geschlagene acht Stunden! Das ist nicht machbar, nicht möglich. Ich werde es niemals rechtzeitig schaffen… Mir wird schlagartig übel, meine Knie zittern, die Kälte-Atemwölkchen vor meinem Mund puffen schneller, und ich setze mich erst mal auf meinen Koffer, damit meine Gummibeine nicht nachgeben. So nahe am Boden wird mir noch kälter, während alle anderen Reisenden sofort zu wissen scheinen, was zu tun ist und den Bahnsteig fluchtartig verlassen. Ich jedoch sitze und sitze und mir fällt einfach keine Lösung ein. Von einem knarrenden Geräusch werde ich jäh aus meinen Gedanken gerissen. Und nicht nur das: Plötzlich knalle ich unsanft auf den Boden!

Der Koffer ist geborsten, und durch die Wucht meines Gewichts und des Aufpralls hat die im Koffer befindliche PET-Saftflasche einen ordentlichen Riss bekommen. Ein Großteil meiner feinen Kleidungsstücke, die ich mir extra für die Hochzeit meiner besten Freundin in Zürich angeschafft habe, ist nun von klebrigem Pfirsich-Maracuja-Saft bedeckt. Was ist das für ein Tag! Ich werde mit acht Stunden Verspätung eintreffen (falls überhaupt noch ein Zug kommt?!), die besondere Zeremonie der schweizerischen Hochzeit beginnt um 17 Uhr, und ich reise zudem mit feuchten, klebrigen Kleidern in einem offenen Koffer an…

Gequält schaue ich mich um, der Bahnsteig ist leer. Wie doof kann man nur sein und eine volle Flasche in den Koffer legen?! Hätte ich meine größere Umhängetasche genommen, hätte die Flasche noch hineingepasst, aber nein, viel zu viel Ballast auf den Schultern… Was soll’s? Ich springe auf, klemme mir den halb offenen Koffer unter den verschwitzten Arm und laufe zur Auskunft. Ich habe großes Glück, vor dem Schalter ist es leer. Der Bahnmitarbeiter nimmt meine außer Atem vorgetragene, besorgte Erklärung sehr ernst. Ruck, zuck sucht er mir Verbindungen raus. Kassel, Wiesbaden, Mannheim, Basel, Schaffhausen, Zürich… Ohgottogottohgottogott, aber es ist machbar.

Ich komme um 16:05 Uhr in Zürich an. Endlich sitze ich im Taxi, es ist nicht weit bis zur Kirche. Ganz leise schleiche ich mich hinein, die Orgel spielt schon. Meinen Koffer lege ich vorsichtig auf den Boden und setze mich in die letzte Bank. Verschwitzt, glücklich und tief durchatmend lausche ich der Orgelmusik. Mein verschmutztes Kleid ist Nebensache.